EGMR 28.6.2018 - 60798/10 und 65599/10 ("Sedlmayr-Mörder")

Online-Archive und Recht auf Vergessenwerden

Aufgabe der Medien ist nicht nur die Information über aktuelle Ereignisse, sondern auch das Bereitstellen öffentlich zugänglicher Archive. Bei der Abwägung der Rechte aus Art. 8 und 10 EMRK ist auch die abschreckende Wirkung für die Medien zu berücksichtigen, wenn diese noch nach Jahren auf den Antrag der Betroffenen hin die Rechtmäßigkeit ihrer archivierten Beiträge überprüfen müssten.

Die Beschwerdeführer waren 1993 wegen Mordes an dem bekannten Münchener Volksschauspieler Walter Sedlmayer zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden und wurden im 2007 bzw. 2008 auf Bewährung aus der Haft entlassen.

Im Jahr 2007 klagten sie vor dem Landgericht Hamburg gegen den Radiosender Deutschlandradio, um die Anonymisierung ihrer personenbezogenen Daten, die in Archiven auf der Website des Radiosenders abrufbar waren, zu erreichen. Nachdem der Bundesgerichtshof ihre Klagen abgewiesen hatte (Urt. v. 19.12.2009 - VI ZR 227 u. 228/08 = AfP 2010, 77), nahm das Bundesverfassungsgericht ihre Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an.

Ihre auf Art. 8 EMRK gestützte Beschwerde wies der EGMR nun mit der Begründung ab, dass das von Art. 10 gewährleistete Recht auf freie Meinungsäußerung des Rundfunksenders sowie dem Recht der Öffentlichkeit auf Information überwiege:

Der Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführer sei zunächst auf die Entscheidung der Medien zurückzuführen, ihre alten Berichte auf ihren Internetseiten auch noch nach Jahren bereitzuhalten. Durch die Funktion von Suchmaschinen werde dieser Eingriff zusätzlich verstärkt. Zwar hätten die Beschwerdeführer ein erhebliches Interesse daran, nicht mehr mit ihrer Verurteilung konfrontiert zu werden. Jedoch habe die Öffentlichkeit nicht nur ein Interesse daran, über aktuelle Ereignisse informiert zu werden, sondern auch über vergangene Ereignisse recherchieren zu können. Das Bereitstellen öffentlich zugänglicher Archive gehöre deshalb ebenfalls zur Aufgabe der Medien in einer demokratischen Gesellschaft (unter Hinweis auf den Fall Wegrzynowski und Smolczewski gegen Polen v. 16.10.2013 - 33846/07, AfP 2014, 517).

Zutreffend habe der BGH in diesem Sinne auf das Risiko einer abschreckenden Wirkung zum Nachteil der Meinungsäußerungsfreiheit hingewiesen, wenn die Medien auf Antrag der Betroffenen hin die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Artikel überprüfen müssten. Beim Bestehen einer solchen Pflicht drohte die Gefahr, dass die Medien ihre Archive nicht mehr länger online stellen könnten oder sogar schon bei der erstmaligen Veröffentlichung eines Artikels persönliche Informationen auslassen könnten.

Zwar greife eine Anonymisierung der Berichte weniger in die Meinungsäußerungsfreiheit ein als die vollständige Löschung. Jedoch stelle die Art und Weise des Umgangs mit einem Thema eine Frage der journalistischen Freiheit dar: Um die Glaubwürdigkeit einer Veröffentlichung zu gewährleisten, überlasse Art- 10 EMRK den Journalisten – in den Grenzen der ethischen Standards ihres Berufes und ihren Standesregeln – die Entscheidung darüber, welche Einzelheiten veröffentlicht werden sollten und welche nicht (unter Verweis auf die Rechtsprechung der Großen Kammer des EGMR in Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v. 27.6.2017 - Az. 931/13, AfP 2018, 31). Individualisierende Elemente wie der vollständige Namen der betroffenen Person in einem Bericht stellten einen wichtigen Aspekt der Pressearbeit dar, erst recht bei Berichten über Strafverfahren, die ein erhebliches Interesse hervorgerufen haben. Die Abrufbarkeit der Artikel über das Strafverfahren trage somit zu einer Debatte von allgemeinem Interesse bei, das auch nach einigen Jahren noch nicht erloschen sei.

Im Rahmen der Gesamtabwägung aller Umstände des Falles überwögen die Rechte der Beschwerdeführer aus Art. 8 somit nicht den widerstreitenden Interessen aus Art. 10 der Konvention.

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.07.2018 14:47
Quelle: Dr. Thomas Haug, LL.M. (Exeter)

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